Ganz ehrlich, ich habe keine Ahnung mehr, wo ich am 9. November 1989 war und wie ich genau vom Mauerfall erfahren habe. Ich war noch zarte 8 Jahre alt und im Grunde so unpolitisch, wie man nur sein kann. Eben ein unbeschwertes Kind im Westen der Republik. War ich zu klein, um die Ereignisse von damals mitzubekommen? Nein. Ich war aber wohl noch zu klein, um mich an bestimmte Tage zu erinnern.
Denn ich erinnere mich sehr genau an den Mauerfall. An die Zeit des Mauerfalls, nicht den Tag. Wie so viele, hatten auch wir „die Verwandten im Osten“. Mein Vater stammt aus der Nähe von Leipzig und floh mit seinen Eltern auf verhältnismäßig dramatische Weise in den 50ern in den Westen. Was? Da gabs doch noch gar keine Mauer! Trotz allem war auch zu dieser Zeit ein Flüchten in den Westen nicht so einfach, wenn die falschen Leute die Augen auf einen geworfen haben. So wie damals auf meinen Großvater. Aber das steht alles auf einem ganz anderen Blatt.
Es gab somit für uns eine relativ enge Verbindung „in den Osten“, zu den verbliebenen Verwandten. Wir besuchten sie auch zu Zeiten der Mauer und ich habe ziemlich lebhafte Erinnerungen an unsere Besuche, an die Grenzkontrollen. Ich kann mich an Fahrten mit diesen ganz anderen Autos erinnern, die nicht mal einen Anschnallgurt hatten. Ich kann mich an die Wohnung meiner Großtante erinnern, an den Geruch, an meinen ersten Puppenwagen, an die holprigen Straßen. Und vor allem kann ich mich daran erinnern, dass ich meine Großcousine liebte und bewunderte.
Und es ist eben diese Großcousine, der ich ohne ihr Wissen „verdanke“, dass ich mich an die Ereignisse von damals erinnern kann. Denn sie war eine der Flüchtenden, bevor es schließlich zur Maueröffnung kam. Ihr Ziel waren wir. Zur damaligen Zeit wusste ich kaum wo Polen und Ungarn lagen, ich verstand wenig von offenen und geschlossenen Grenzen, von Botschaften und welche Schlagworte auch immer eine Rolle spielten. Ich wusste, dass meine Großcousine auf dem Weg zu uns war. Ich freute mich auf sie. Ich hatte mein 20qm Zimmer geräumt und war in ein kleines Kämmerchen von 6qm gezogen. Damit sie bei mir wohnen konnte. Damit sie es schön hatte.
Ich erinnere mich daran, wie die ganze Familie gebannt vor dem Fernseher saß. Ich erinnere mich an Bilder von Menschen die über irgendwelche Zäune kletterten. Ich erinnere mich, wie wir irrwitzigerweise jede einzelne Person scannten, um zu schauen, ob sie dabei war. Und ich erinnere mich, wie wir ständig auf einen Telefonanruf warteten, der uns mitteilte, dass sie in Ordnung ist. Denn anders als heute, gab es natürlich keine Handys, kein Internet. Wir wusste, dass sie auf dem Weg war, doch wo sie sich wirklich gerade befand, lag im Dunkeln.
Für mich war die Zeit einfach spannend. Ich spürte die Anspannung meiner Eltern, ob bei ihr auch wirklich alles gut gehen würde und sie bei uns ankommt. Doch die Tragweite der Ereignisse von damals begriff ich noch nicht vollständig. Für mich war es einfach eine ganz persönliche Geschichte, bei der ich auf meine Großcousine wartete, die unter schwierigen Umständen zu uns kam.
Und sie kam irgendwann. Aber daran erinnere ich mich komischerweise nicht mehr. Weder wann, noch wie. Dafür war ich dann wohl doch noch zu klein.
Das nächste woran ich mich erinnere ist, dass ich mit meinem Vater „in den Osten“ fuhr. Dahin, wo er geboren wurde und die ersten Jahre seines Leben verbrachte. Das Haus steht noch heute, ist aber schon seit Jahrzehnten verlassen. Ich erinnere mich an Fotos, die wir für meine Oma machten und die Tränen in ihren Augen, als sie zum ersten Mal nach den Jahrzehnten wieder ihr alten Zuhause sah. Ein Zuhause, das für eine Trennung über Nacht stand.
Immer wieder sagen Leute zu mir, dass ich ja sicherlich noch zu klein war, um die Ereignisse von damals mitbekommen zu haben. Doch ich verneine das. Natürlich verstand ich nicht die Tragweite des Ganzen und mache den Mauerfall nicht an einem Tag fest. Aber ich erinnere mich an das Leben, an Emotionen und an Bilder.
Danke an Inka von blickgewinkelt, für den Aufruf zur Erinnerung!